Digitale Demokratie

Digitalisierung und Öffentlichkeit in Brasilien

Veranstaltung des DAPP diskutiert die Verteidigung der Meinungsfreiheit in sozialen Netzwerken inmitten von Angriffen auf die Demokratie

In seiner Rede stand Alexandre de Moraes, Minister des Obersten Bundesgerichts, für die Rechenschaftspflicht der digitalen Plattformen bei der Bekämpfung der, wie er es nannte, digitalen Guerrillas ein. In den Diskussionsrunden wurde der Bedarf einer Antwort, die diverse Akteure und Aktionen betrifft, hervorgehoben

Wie soll die digitale Umgebung zum Zeitpunkt der nächsten Wahlen in Brasilien aussehen? Diese war eine der Fragen, die die Teilnehmer des Webinars Wahlen 2022 und Desinformation in Brasilien: Risiken und Herausforderungen des brasilianischen Wahlprozesses in der digitalen Umgebung stellten. Die Veranstaltung wurde am 22. Februar vom Vorstand für Evaluation öffentlicher Politiken der Fundação Getulio Vargas (FGV DAPP) durchgeführt. Außer Alexandre de Moraes nahmen weitere Vertreter der Zivilgesellschaft, die an der öffentlichen Debatte über die Desinformation beteiligt sind, daran teil. Die Initiative ist Teil des vom FGV DAPP mit Unterstützung der Deutschen Botschaft Brasília koordinierten Projekts Digitalisierung und Demokratie in Brasilien.

Mit Moderation des Sonderreporters der Folha de S. Paulo Fábio Zanini eröffnete der Präsident der FGV, Carlos Ivan Simonsen Leal, die Veranstaltung und hob die Notwendigkeit, die Auswirkung der Informationstechnologien auf die politische Arena zu verstehen, hervor. Die einleitenden Worte der Eröffnung sprach er gemeinsam mit dem deutschen Botschafter in Brasilien, Heiko Thoms, der das Interesse Deutschlands für die zeitgenössischen Debatten über die Gewährleistung der demokratischen Institutionen bekräftigte. Im Anschluss begann Alexandre de Moraes seinen Vortrag und setzte den Schwerpunkt auf ein Szenario, das ein Risiko für die Demokratie in digitaler Umgebung darstellt und er als „gesetzloses Land“ beschrieb. Seiner Rede folgten Diskussionsrunden, die die Durchsetzung einer Reihe von Maßnahmen befürworteten.

Laut dem Minister bestehen mindestens vier Kerngruppen, die das Ökosystem der Desinformation im brasilianischen Internet unterstützen. Die erste betrifft die Produktion von Desinformation und wird zunehmend professionalisiert; Die zweite berührt deren Verbreitung, die neben der Anwendung von Robotern Individuen mit einbezieht, mit dem Ziel, Postings weiter zu verbreiten, bis sie die Trending Topics erreichen; Die dritte belangt die Politik an und nutzt die automatisierte Verbreitung von Diskussionen, damit die Teilnahme der Bevölkerung legitim erscheint; Die vierte bezieht sich auf die Finanzierung mittels Sponsoren, die politische, ideologische und wahlbezogene Interessen an der Verbreitung von Desinformationen haben.

Laut Moraes, der 2022 für das Oberste Wahlgericht zuständig sein wird, greifen diese Gruppen drei Säulen der Demokratie an: freie regelmäßige Wahlen, Pressefreiheit und Autonomie der Justiz. In diesem Sinne argumentierte er, dass für die nächsten Wahlen in Brasilien eine digitale Umgebung erwünscht ist, die Meinungsfreiheit mit Verantwortung gleichermaßen kombiniert. Um diese zu schaffen, verteidigte er eine Rechenschaftspflicht der Plattformen, die den „traditionellen Medien“ ähnelt, und die Gewährleistung, dass es „keine vorhergehende Zensur, sondern ein schnelles Ergreifen von Maßnahmen nach der Veröffentlichung von Inhalten, die die Demokratie und Ehre verletzen, gibt“.

Die erste Diskussionsrunde Bekämpfung der Desinformation und Meinungsfreiheit begann unter der Beteiligung von Beatriz Barbosa, Mitglied der Koalition Rechte im Netz (Coalizão Direitos na Rede). Basierend auf Diskussionen, die in den letzten Jahren geführt wurden, bestand sie darauf, dass das Internet kein gesetzloses Land ist. Dies sei vor allem einer Rechtsordnung, die Aktionen im Netz diszipliniert und regelt, zu verdanken, wobei der Marco Civil na Internet (Zivilgesellschaftliches Rahmenabkommen des Internets) das wichtigste Beispiel dafür ist. Zudem gibt es eine Reihe von legalen Mitteln, die Delikte, die beispielsweise auf Diskriminierung und Beleidigung basieren, als Straftatbestand darstellen. Bevor neue Rechtsordnungen vorgeschlagen werden, sei es notwendig, Wege zu finden, die bereits existierenden schnell durchzusetzen, behauptete Barbosa.

In Anbetracht des Beispiels der USA, wo die Accounts des ehemaligen Präsidenten Donald Trump auf digitalen Plattformen gesperrt wurden, betrachtete sie die Idee, dass Unternehmen verantwortlich für die Moderation der Inhalte sind, als bedenklich. Dies verleihe ihnen mehr Macht, während die Justiz dadurch befreit werde. Sie machte darauf aufmerksam, dass die brasilianische Justiz trotz der schnellen Antwort seitens des Obersten Wahlgerichts auf die Hackerangriffe bei den Wahlen 2020 sich noch „schweigsam“ gegenüber diffamierenden Diskursen wie den systematischen Hassreden gegen soziale Minderheiten zeigt.

Thiago Rondon, Koordinator der Bekämpfung der Desinformation des Obersten Wahlgerichts, teilte seine Erfahrungen bei der Gründung eines Komitees für den Kampf gegen die Desinformationskampagnen bei den letzten Wahlen. Er gab an, dass die Zusammenarbeit mit Plattformen, Faktencheck-Organisationen und unterschiedlichen Akteuren aus Umgebungen diverser Sektoren bei der Identifizierung von Aktionen im Internet gegen das Gericht sowie von deren Verantwortlichen von grundlegender Bedeutung war. Seiner Meinung nach umfasse die für die zukünftigen Wahlen erwünschte digitale Umgebung mindestens zwei Aspekte. Der erste entspricht dem Zugang zur verifizierten Information unabhängig von dem Internetpaket, über das die Bürger verfügen. Der zweite betrifft die Richtung der Plattformen auf eine „zivile Politik“, die eine klare Haltung gegenüber illegitimen Verhaltensweisen aufweist.

Marco Ruediger, Direktor des FGV DAPP, beendete die Diskussionsrunde mit der Aussage, dass weder eine isolierte noch eine reaktive, wie in den USA, sondern eine globale Konfrontation der Situation notwendig ist. „Die Demokratien müssen sich gegenseitig unterstützen und schützen, aber auch nach spezifischen Lösungen suchen“, argumentierte er. Außerdem sprach er sich für die Bildung eines Forums aus, das aus einer Vielfalt an Akteure besteht, welche in der Lage sind, eine Reihe von Maßnahmen zum Schutz und zur Gewährleistung der demokratischen Prinzipien bei den nächsten Wahlen vorzuschlagen und voranzubringen.

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Die zweite Diskussionsrunde „Meinungsfreiheit und Hassrede“ wurde vom Koordinator des FGV DAPP, Amaro Grassi, moderiert und bestätigte die Komplexität des Themas. Bei der Einleitung sagte Michael Westland, Erster Sekretär der Deutschen Botschaft Brasília, dass die Veranstaltung zur Fortentwicklung der gerichtlichen Mechanismen beiträgt, ohne die Meinungsfreiheit zu beeinträchtigen. Nach seiner kurzen Rede eröffnete Márcio Black, Koordinator des Programms Democracia e Cidadania Ativa (Demokratie und aktives Bürgerengagement) der Stiftung Tide Setubal, die Diskussion. Dabei ging er von einer konzeptuellen Perspektive aus, um das allgemeine Verständnis des öffentlichen Raums zu problematisieren.

Black verwies darauf, dass die Ungleichheit in Brasilien alle Instanzen des Lebens im Land anbelangt, einschließlich des Zugangs zum „öffentlichen Raum“, „freien Marktplatz der Ideen“, d.h. zu den Debatten- und Entscheidungsorten. “Da die Debatte asymmetrisch in den öffentlichen Raum eingesetzt wird, werden bei der Beteiligung daran Missverständnisse, Ressentiments und lexikalische Asymmetrien erzeugt, erklärte er. Somit erkannte er die grundlegende Rolle der Bildung nicht nur bei der Fortentwicklung der Akteure, sondern auch der Räume selbst, von denen sie abhängen, um auf qualifizierte Information zugreifen zu können. „Wir müssen die Requalifizierung und Re-Demokratisierung aller unserer Institutionen in die Debatte einfügen. Entscheidungsräume und Individuen gleichzeitig sehen und weiterbilden“, schlug er vor.

Maurício Mussi, Votorantims Manager für institutionelle Beziehungen, stimmte dem zu: „Die Pandemie akzentuierte die vorherrschenden Ungleichheiten in Brasilien, was den asymmetrischen Zugang zur öffentlichen Debatte einbezieht“. Basierend auf Aktionen und Studien, die vom Institut finanziert werden, bekräftigte er die Notwendigkeit, die Elemente zu betrachten, die das unterstützen, was er als „niedrige Demokratiekultur“ bezeichnete und vom geringen Vertrauen seitens der Individuen in sich selbst, Institutionen, politische Prozesse sowie demokratische Prinzipien und Werte geprägt ist. Für ihn ist der Weg zur Bekämpfung der Widersprüche, die die Nutzungen sozialer Netzwerke hervorbringen, komplex und systemisch.

Mussi glaubt, dass danach gefragt werden sollte, wie ein Kommunikationsmittel unter Berücksichtigung der Merkmale der digitalen Medien im Einklang mit einer demokratischen Umgebung sein kann. Die möglichen Antworten auf diese Problematik berührt die Förderung von Forschungsmethoden in sozialen Netzwerken. Thomas Traumann, geschäftsführender Koordinator des MBA am FGV DAPP, und Danielle Sanches, wissenschaftliche Mitarbeiterin des FGV DAPP, schlossen die Diskussionen ab und betonten die Herausforderungen beim Identifizieren, Verstehen und Vermitteln der Dynamiken der Netzwerke, vor allem mit Bezug auf deren politischen Charakter.

Traumann gab an, dass der DAPP sich als Raum für die Untersuchung der Art und Weise, wie die öffentliche Debatte in den Netzwerken erfolgt und wie die Menschen unter anderem die öffentlichen Politiken in der digitalen Umgebung empfinden, konsolidiert. In diesem Sinne habe die Existenz von Lügen in den Wahlkampagnen – eine Praxis, die er in der Geschichte und in unterschiedlichen Gesellschaften lokalisiert – eine kleinere Bedeutung als die Art und Weise, wie die Nutzer der Netzwerke diese Diskurse wahrnehmen und vor allem verbreiten.

Danielle Sanches stellte die Herausforderungen der Untersuchung der Debatte über Hassrede im brasilianischen Internet vor. Obwohl eine konzeptionelle Begriffsbestimmung der Hassrede auf Basis einer umfassenden und zunehmenden Literatur möglich sei, behauptete sie, dass diese Aufgabe komplizierter wird, wenn es, ausgehend von Sprachfiguren, Memes und Videos zum Beispiel, um konkrete Realitäten geht. Darüber hinaus stöße die Forschung des Themas auf Spezifitäten des Online-Bereichs, wie die Anonymität und Unsichtbarkeit der Inhaltsproduzenten. Abschließend zeigte sie auf, dass die Hindernisse und Schwierigkeiten bei der Suche nach Konfrontation der Konflikte, die in den sozialen Netzwerken entstehen, wichtige Daten sind, weil sie die Unwirksamkeit vereinfachter Antworten offenbaren.

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