Digitale Demokratie

Digitalisierung und Öffentlichkeit in Brasilien

Meinung | Die Herausforderungen der öffentlichen Debatte über Hassrede in sozialen Netzwerken

Studie des FGV DAPP deutet auf Lücken in der Definition und Anwendung von Begriffen wie Meinungsfreiheit und Zensur auf Basis von Twitter- und Facebook-Daten hin

Luiza Santos* und Renata Tomaz**

Das Thema Hassrede und ihre Verbreitung in sozialen Netzwerken stößt auf immer größer werdendes Interesse bei Forschern, unterschiedlichen Einrichtungen und diversen Sektoren der Zivilgesellschaft. Ausgehend vom rechtlichen, theoretischen Feld gewinnt das Thema im Netz zunehmend an polarisierenden Akzenten, bis hin zu diskursiven Ansätzen, die die Stimmen unterschiedlicher sozialer Akteuren gegenüberstellen. Es ist von Bedeutung, die Reichweite dieser Debatte zu messen, da die Aufrechterhaltung eines Raumes für Meinungsfreiheit, Sicherheit und Toleranz gegenüber Diversität eine grundlegende Bedingung für demokratische Gesellschaften ist.

Diese Messung war eines der Ziele des Policy Papers „Hassrede in digitalen Umgebungen: Definitionen, Besonderheiten und Kontext der Online-Diskriminierung in Brasilien anhand von Twitter und Facebook“, welches im März 2021 vom Vorstand für Evaluation öffentlicher Politiken der Fundação Getulio Vargas veröffentlichtet wurde. Die Studie wurde im Rahmen des Projekts Digitalisierung und Demokratie in Brasilien, eine Kooperation zwischen dem FGV DAPP und der Deutschen Botschaft Brasília, durchgeführt. Die Methodik bestand darin, die Debatte über Hassrede zwischen November 2020 und Februar 2021 zu analysieren und die Themen zu identifizieren, bei denen die Veröffentlichungen Spitzenwerte auf Twitter und Facebook erreichten.

Meinungsfreiheit und Zensur gehören zu den Thematiken, die von den Postings in diesem Zeitraum am meisten betrachtet wurden. Diese wurden hauptsächlich durch die Löschung der Accounts Donald Trumps im Januar auf verschiedenen digitalen Plattformen motiviert. Als Begründung gaben die Unternehmen an, dass die Aussagen des damaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten nicht nur zum Sturm auf den US-Kongress anstifteten, sondern auch ähnliche Aktionen hätten motivieren können. Die qualitative Analyse der Tweets und Facebook-Veröffentlichungen identifizierte Narrative von Nutzern, die gleichzeitig die Meinungsfreiheit Trumps als absolutes Recht verteidigten und die Haltung der Plattformen als Zensur darstellten.

Neben der rechtlich-diskursiven Streitigkeit zeigte die Untersuchung des FGV DAPP Lücken in der Definition und Anwendung von den Begriffen Meinungsfreiheit und Hassrede auf. Dies bestätigte die in der Studie durchgeführte Literaturübersicht, die mindestens zwei Strategien zur Behandlung des Themas signalisiert. Die erste ist auf die Regierungen zurückzuführen. Sie versuchen, legale Mechanismen zu formulieren, um die Lücken, die die Hassreden überbrücken, zu schließen – darunter die Lücke des Diskurses der Meinungsfreiheit. Die zweite stammt von den digitalen Plattformen, die mittels ihrer Nutzungsbedingungen und Gemeinschaftsrichtlinien beispielsweise versuchen, festzulegen, welche vulnerable Gruppen auf ihren Seiten angegriffen werden und welche Sanktionen gegen diese Angriffe verhängt werden können.

Die Bemühung des brasilianischen Staates im rechtlichen Bereich zeigt sich auf zwei Arten. Zum einem werden legale Mittel eingesetzt, die die Idee des Internets als ein gesetzloses Land dekonstruieren. Das 2014 verabschiedete Zivilgesellschaftliche Rahmenabkommen des Internets legt zum Beispiel Richtlinien fest, die die Online-Umgebung rechtlich einrahmen. Zum anderen wird die Einführung einer Rechtsordnung angestrebt, die die Kriterien für die Verteidigung oder Rechenschaftspflicht der an der Verbreitung von Hassreden beteiligten Akteure klarstellt. In diesem Sinne ist der Gesetzentwurf Nr. 2.630 hervorzuheben, welcher das brasilianische Gesetz für Freiheit, Verantwortung und Transparenz im Internet – das sogenannte „Fake-News-Gesetz“ – einbringt. Zu dessen polemischen Aspekten gehören die Anforderung, dass die Plattformen vierteljährliche, öffentlich zugängliche Berichte über die gelöschten Accounts und Inhalte erstellen, und die Erlaubnis zur Löschung von Inhalten in Fällen von Anstiftung zur Gewalt und unmittelbarem Schaden, der schwer zu kompensieren ist, ohne Benachrichtigung des Nutzers.

Die Plattformen, die trotz ihres Firmensitzes in ihren Herkunftsländern weltweit tätig sind, legen mittels ihrer Nutzungsbedingungen und Gemeinschaftsrichtlinien fest, welche Verhaltensweisen in ihren Räumen akzeptabel sind oder nicht, und bestimmen die Sanktionen beim Verstoß gegen die Regel. Dieser Prozess der Selbstregulierung der Big Techs ist ungenau bezüglich der Sanktionen und unpräzise hinsichtlich der Definitionen von Meinungsfreiheit und Hassrede, wie die Studie des FGV DAPP zeigte. Es fehlt ebenso eine minimale Standardisierung dieser Begriffe unter den Unternehmen. Problematisch sind zudem soziokulturelle und linguistische Fragen, die durch die Diversität der Sprachformen im Internet – z.B. Videos, Memes, Hashtags und spezifische Begriffe einer Community – akzentuiert werden.

Das Thema Hassrede und Meinungsfreiheit ist voller Feinheiten, sowohl wegen der Herausforderungen bei der Definition dieser Begriffe als auch wegen der unterschiedlichen Perspektiven verschiedener Akteure, die an der Debatte beteiligt sind: Nutzer, Minderheitengruppen, Kommunikationsfachleute, Personen des öffentlichen Lebens, Staaten und digitale Plattformen. In diesem Sinne sollte die Förderung nach Strukturen, die dem Nutzer ermöglich, gehört zu werden, denselben Stellenwert haben wie die Formulierung von Gesetzen und Normen, die die Nutzung von Social-Media-Plattformen regeln. Die verschiedenen Stimmen hörbar zu machen, spielt dabei eine grundlegende Rolle, dass die vom Staat und Unternehmen ergriffenen Maßnahmen auf Strafen nicht beschränkt werden, sondern ein Repertoire an Wörtern, Begriffen, Ausdrücken und Sprachen anbieten, die den verschiedenen sozialen und politischen Akteuren ermöglichen, Narrative zu bilden, durch die Hassrede identifiziert und folglich bekämpft wird.

Wenn die öffentlichen Politiken einerseits dem Vormarsch des Ökosystems der Desinformation in der diskursiven Produktion der Online-Diskriminierung widerstehen müssen, müssen sie andererseits ein Vokabular des Verständnisses von Diversität und Unterschieden aufbauen. Diese Politiken müssen öffentliche Arenen der Debatte mit kontextualisierten Ansätzen fördern, unterstützen und legitimieren, die einen weltweit einheitlichen Umgang der Plattformen mit Fragen, die aufgrund von lokalen Konflikten und Spezifitäten besonders komplex sind, überwinden.

*Luiza Carolina dos Santos ist Journalistin mit Doktortitel in Kommunikations- und Informationswissenschaften (UFRGS) und wissenschaftliche Mitarbeiterin am FGV DAPP.
**Renata Tomaz ist Journalistin mit Doktortitel in Kommunikations- und Kulturwissenschaften (ECO-UFRJ), wissenschaftliche Mitarbeiterin am FGV DAPP bei dem Projekt Digitalisierung und Demokratie in Brasilien und Forscherin im Postdoc-Programm in Medien und Alltag der UFF.

Die Äußerungen von Mitarbeitern der Fundação Getulio Vargas, die in Artikeln und Interviews allgemeiner Kommunikationskanälen als solche identifiziert sind, entsprechen ausschließlich den Meinungen der Autoren und nicht notwendigerweise der institutionellen Haltung der FGV.

Der Artikel wurde auf der Plattform Nexo Políticas Públicas, in der Rubrik Ponto de vista, veröffentlicht und ist unter diesem Link zugänglich.

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