Digitale Demokratie

Digitalisierung und Öffentlichkeit in Brasilien

Meinung | Diskurs über Misstrauen entwickelt sich zu Verteidigung des gedruckten Stimmzettels auf sozialen Netzwerken

Sabrina Almeida* und Victor Piaia** ***

Die Welle von Betrugsvorwürfen, die Anfang November während des US-Präsidentschaftswahlprozesses angesichts der Wahlniederlage Donald Trumps entstand, ermutigte Unterstützer des Präsidenten Bolsonaro, Anschuldigungen gegen das brasilianische Wahlsystem zu erheben. Dem versuchten Hackerangriff auf das System des Obersten Wahlgerichts und der Verzögerung der Stimmenauszählung bei der ersten Wahlrunde folgte eine Welle des Misstrauens. Die zunehmende Infragestellung der Fähigkeit des Gerichts, die Sicherheit der Wahlen zu gewährleisten, trieb Kampagnen für den gedruckten Stimmzettel voran.

Die Mobilisierung zur Verteidigung des brasilianischen Wahlsystems seitens Individuen und Institutionen, die für demokratische Prinzipien einstehen, fand hingegen in keinem bedeutenden Maße statt. Diese sind einige der Schlussfolgerungen einer vom FGV DAPP realisierten Studie über die Verbreitung von Inhalten über das Misstrauen gegenüber Wahlen im Wahlmonat auf Facebook, Twitter und YouTube.

Die Geschichte wiederhole sich nicht, aber sie ähnele sich, wie die Autoren Steven Levitsky und Daniel Ziblatt in „Wie die Demokratien sterben“ feststellten. Die Diskussion über mögliche Betrüge im Wahlsystem beschränkt sich mindestens seit 2014 nicht mehr auf Gruppen, die technische Kritiken übten, und verschwörerische Nischen, sondern geht auf die öffentliche Debatte und ein breiteres politisches Szenario näher ein.

Eine vorherige Studie verfolgte die Verbreitung von Links über dieses Thema zwischen 2014 und Oktober 2020 und zeigte ihre ständige Präsenz in der digitalen Debatte im betrachteten Zeitraum. Hinzu kommen Äußerungen von Politikern zum Thema, wie vom Präsidenten, der in diversen Momenten erklärte, er habe die Wahlen wegen Betrugs nicht in der ersten Runde gewonnen.

Im November 2020 wurde ein merkwürdiger Fakt beobachtet: Der Diskurs pro gedruckten Stimmzettel nahm während der Kommunalwahlen trotz fehlender Beweise möglichen Wahlbetrugs zu, obwohl die mit gedrucktem Stimmzettel durchgeführte Wahl in den Vereinigten Staaten auch infrage gestellt wurde. Das heißt, dass der gedruckte Stimmzettel gleichzeitig als Begründung für die Betrugsvorwürfe in den USA und als Lösung für die Wiederherstellung des Vertrauens in das brasilianische Wahlsystem, das keinen Betrug aufwies, gilt.

Aus der Analyse von Postings auf Facebook geht hervor, dass dieses Ergebnis mittels einer durchdachten Kommunikationsstrategie in sozialen Medien ermöglicht wurde. Diese strukturierte das Narrativ über Betrug um, indem das Gewicht von den angeblichen Anzeigen und Fällen von Manipulation auf zivilgesellschaftliche und technische Argumente wie höhere Transparenz und Überprüfungsfähigkeit verlagert wurde. Somit wurde die Fähigkeit des Obersten Wahlgerichts, die Sicherheit der Wahlen zu gewährleisten, infrage gestellt. Während die Auswirkungen der US-Wahlen dazu dienten, die für das Narrativ über Betrug bereits engagierten Gruppen zu fördern, wurden die Episoden bezüglich des Obersten Wahlgerichts mit dem Zweck mobilisiert, das Misstrauen gegenüber der Institution auf ein breiteres Publikum auszudehnen und die Umstellung auf den gedruckten Stimmzettel in Betracht zu ziehen.

Die Analyse der Interaktionen über Misstrauen gegenüber Wahlen auf Twitter hebt den zielgerichteten und engagierten Charakter der Plattform hervor. Der in der Studie betrachtete Zeitraum ist von äußerst kohärenten Diskursen und wirksamen Mobilisierungsstrategien, die das Engagement für den gedruckten Stimmzettel organisieren und koordinieren, geprägt. Die Hashtags mit der größten Reichweite auf Twitter bestärken diese Tendenz, die in den anderen analysierten Netzwerken mittels anderer Strategien zu beobachten sind.

Hinweise auf diese Mobilisierung bedeuten jedoch nicht, dass es keine lebhafte Debatte über den gedruckten Stimmzettel in vorangegangen Zeiträumen gab. Mindestens seit 2013 ist Bolsonaro einer der wichtigsten Akteure der öffentlichen Verteidigung des gedruckten Stimmzettels, die 2018 mit dem Anstieg der Anzeigen wegen Wahlbetrugs an Bedeutung gewann. Ihre Verbreitung erfolgte parallel zu einem wachsenden Glauben an Verschwörungstheorien über ein vermeintliches Zusammenwirken der Institutionen mit Linksparteien für die Wahlmanipulation. Die narrative Strategie mobilisierte das Misstrauen gegenüber dem Wahlsystem also mittels ideologischer Anhänglichkeit.

In diesem Sinne stellt der November 2020 den Anfang einer neuen Phase des Diskurses dar. Diese organisiert sich durch Argumente, die einen allgemeineren Charakter haben und von Ereignissen, die nicht in direkter Verbindung mit Betrug oder Manipulation stehen, ausgehen. Das Narrativ dehnt sich mithin über das hyperparteiische Publikum hinaus aus, indem das Misstrauen gegenüber dem Obersten Wahlgericht nicht notwendigerweise mit verschwörerischen Diskursen verknüpft wird. Somit öffnet sich ein Kontext, in dem das Gericht dazu gedrängt wird, nicht nur seine Integrität und Glaubwürdigkeit, sondern auch seine Fähigkeit und Transparenz nachzuweisen.

Eine Antwort seitens des Gerichts ist dringend und soll nicht punktuell geschehen. Parteien, Institutionen, zivilgesellschaftliche Organisationen, Unternehmen, Influencer und Medienkanäle werden eine bedeutende Rolle bei der Schaffung einer von Sicherheit und institutioneller Glaubwürdigkeit geprägten Umgebung spielen. Die Studie stellte fest, dass die YouTube-Videos, die auf Kanälen der etablierten Presse wie Band, RedeTV und Jovem Pan, die sich auf Empfehlungslisten mit verschwörerischen Inhalten auszeichneten, Argumente über Betrug, die bei den amerikanischen Wahlen verwendet wurden, wiedergaben. Es lässt sich daher erkennen, dass die Verbreitung von Diskursen, die die Wahlinstitutionen entkräften, durch unterschiedliche Mittel, die sich gegenseitig unterstützen und somit die Glaubwürdigkeit der verbreiteten Botschaften erhöhen, erfolgt.

Die Demokratie ist ein dauerhafter Kampf gegen den Opportunismus und die Manipulation, die inner- und außerhalb des Systems entstehen, wie Joe Biden bei seiner Amtseinführung hervorhob. Damit sie ihren grundlegenden Prinzipien treu bleibt, muss es artikulierte Bemühungen vor allem seitens der Institutionen geben. Heute, am Vorabend der Abstimmung über die Präsidenten der Abgeordnetenkammer und des Bundessenats zeigt sich die Dringlichkeit der Auseinandersetzung mit Strategien, die der Aufrechterhaltung der Legitimität des Präsidentschaftswahlkampfs 2022 dienen.

* Sabrina Almeida – Politikwissenschaftlerin. Doktorandin in Politikwissenschaft (UFMG) und wissenschaftliche Mitarbeiterin am FGV DAPP. Sie erforscht politisches mit Schwerpunkt auf Partizipation, Sozialkapital und politische Intoleranz neben Methoden und Forschung sozialer Medien.

** Victor Piaia – Doktorand in Soziologie am Institut für Sozial- und politische Studien (IESP-UERJ). Wissenschaftlicher Mitarbeiter am FGV DAPP und Mitglied des Zentrums für Studien zur Gesellschaftstheorie und Lateinamerika (NETSAL). Er untersucht die Auswirkungen von Veränderungen der Alltagskommunikation auf die Politik mit Schwerpunkt auf Social-Media-Plattformen und Messenger-Apps.

*** Die Äußerungen von Mitarbeitern der Fundação Getulio Vargas, die in Artikeln und Interviews allgemeiner Kommunikationskanälen als solche identifiziert sind, entsprechen ausschließlich den Meinungen der Autoren und nicht notwendigerweise der institutionellen Haltung der FGV.

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