Digitale Demokratie

Digitalisierung und Öffentlichkeit in Brasilien

Meinung | Politiker Among Us

Wahlkampagnen 2020 treiben Gaming-Kultur als Strategie der digitalen Kommunikation voran

Luiza Carolina dos Santos* und Danielle Sanches** ***

Am Abend des 21. Novembers 2020 versammelten sich rund 500.000 Menschen vor ihren Handys, Computern, Tablets oder Fernsehern, um Guilherme Boulos, Bürgermeister-Kandidaten der PSOL (Partei für Sozialismus und Freiheit) für São Paulo, mit dem Youtuber Felipe Neto und seinem Team Among Us spielen zu sehen. Am Morgen des 23. Novembers gab es über 2,5 Millionen Videoaufrufe, 8.000 Kommentare und 320.000 Likes. Am 22. November beteiligte sich Manuela d‘Ávila, Bürgermeisterin-Kandidatin der PCdoB (Kommunistische Partei von Brasilien) für Porto Alegre, am selben Spiel in einem live auf dem YouTube-Kanal Felipe Netos, das eine ebenfalls hohe Anzahl von Aufrufen, Likes und Kommentaren erreichte. Die Wahlkampagnen beider Kandidaten, die in der zweiten Wahlrunde in ihrer jeweiligen Stadt antreten und eine deutliche Zunahme ihrer Unterstützung erfahren, sind durch digitale Strategien geprägt.

Aus kommunikativer Sicht geht diese Strategie auf die vom kanadischen Theoretiker Marshall McLuhan geprägte Idee „das Medium ist die Botschaft“ zurück. In diesem Fall gilt der Akt des Spielens und nicht der Diskurs, der in dieser Umgebung potenziell vorkommen kann, als die Kommunikation selbst. Was Boulos und d‘Ávila beim Spielen demonstrierten, war ihre Bereitschaft, an einer in dieser Umgebung fortlaufenden Kommunikation teilzunehmen, die nicht nur von denen, die reden, sondern auch von denen, die hören, durchgeführt wird.

Das ist nicht das erste Mal, dass das Spiel Among Us, das im Zuge der sozialen Einschränkungen der Covid-19-Pandemie populär wurde, im politischen Szenario erscheint. Mitte Oktober nutzte die amerikanische Kongressabgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez die Plattform Twitch für ein Streaming desselben Spiels. Wie Boulos und d’Ávila gehört Ocasio-Cortez zum linken Politikspektrum. Among Us stellt einen wichtigen Bestandteil der politischen Kommunikation dar, denn das Ziel der Spieler, die die Rolle der Besatzungsmitglieder übernehmen, ist es, die Verräter zu identifizieren und zu eliminieren. Ein oder zwei Spieler werden in jeder Runde als Verräter ausgewählt, welche die Besatzung eliminieren und deren Aufgaben sabotieren soll.

Es ist darauf hinzuweisen, dass Boulos während der ersten Wahlrunde in der Gaming-Welt bereits aktiv war: Neben einem ersten Livestream auf Twitch, in dem er Among Us spielte, nahm er am von Gaming-Influencern Monark und 3K durchgeführten Podcast Flow teil und lancierte sein eigenes Spiel „Super Boulos 50“. Basierend auf einer einfachen Dynamik zielt das Spiel darauf, Boulos Gegner zu umgehen und ihm zu helfen, an das Rathaus zu kommen. Um dies zu erreichen, soll jedes Viertel São Paulos mittels der Aktivierung politischer Anliegen des Kandidaten wie Bekämpfung der Kriminalität und Lösung von Fragen mit Bezug auf Wohnungen, Gesundheit und Verkehr beherrscht werden. Dabei wird vor den „Tukanen, die die Stadtentwicklung verzögern“ und Mitglieder der Partei der brasilianischen Sozialdemokratie (PSDB) bezeichnen, gewarnt.

Das Streaming von Games und die Aktionen, die sich an das Gaming-Publikum richten, sind in Einklang mit Strategien der digitalen Kommunikation und der Nutzung von etablierten sozialen Netzwerken in den drei obengenannten Fällen. Der Zweck dabei ist es, mit jüngeren Wählern, die potenziell mit linken Agenden verbunden sind, in Dialog zu treten, aber auch den Abstand zwischen Rechts und Links bei der Verwendung von digitalen Medien für Wahlkampagnen, der bei den Wahlen 2018 deutlich zu erkennen war, zu verringern. Andere Kandidaten linker Parteien, wie Jilmar Tatto (PT) und Fernanda Melchionna (PSOL), setzten auf die Kommunikation durch neue Plattformen wie TikTok. Die Annäherung dieser Kampagnen an den digitalen Raum erfolgt nicht nur mittels der Nutzung bestimmter Plattformen, sondern auch der Anpassung an die charakteristischen Formate, Sprachen und Ästhetik der digitalen Kultur.
Die Auseinandersetzungen mit dem Gaming-Publikum sind besonders interessant, weil die Assoziation dieses Publikums mit Konservatismus und rechtspolitischen – in vielen Fällen rechtsextremen – Neigungen sowohl unter Gamern als auch unter Forschern der Gaming-Kultur gewöhnlich ist. Allerdings, während die digitalen Spiele immer weniger eine Nischenkultur darstellen und somit zur Sozialisation eines großen Teils der Jugendlichen und jungen Erwachsenen beitragen, werden diese konservativen Tendenzen minimiert und infrage gestellt.

Die Suche seitens der Linken nach einer Annäherung an dieses Publikum scheint in einem strategischen Moment stattzufinden. Um auf McLuhan zurückzukommen, ist es notwendig, nicht nur mit einem bestimmten Publikum zu sprechen, sondern auch die gesellschaftlichen Veränderungen, die die digitalen Medien für die Kommunikationsformen mit sich bringen, nachzuvollziehen. Anscheinend beginnt die Linke, dieses Phänomen zu verstehen. In Zusammenhang mit mobilen Technologien bringen die aktuell von Fragmentierung und Zerstreuung geprägten sozialen Netzwerke und digitalen Plattformen relevante Veränderungen in der Art und Weise, wie die Gesellschaft Information konsumiert und sich politisch und sozial positioniert. Der Politiker, der sich diesen Veränderungen im Kontext der Kommunikation zunutze machen kann, zeichnet sich aus.

In digitalen Medien ist es möglich, vielfältige Zielgruppen anzusprechen und unterschiedliche Narrative mittels Formen wie beispielsweise Threads auf Twitter, WhatsApp-Videos und TikTok-Herausforderungen, die die Aspekte der Kommunikationsfragmentierung und -zerstreuung widerspiegeln, aufzubauen. Außerdem bieten die digitalen Spiele auch einen Raum, in dem Menschen sich unterhalten, Inhalte konsumieren und auf die eine oder andere Weise beeinflusst werden, weshalb die politische Diskussion auch in dieser Umgebung anwesend sein sollte. Der politische Diskurs muss in ein Gespräch übertragen werden, was das Verstehen, wo und vor allem wie dieser Dialog geschieht, verlangt. Die Linke scheint, diesen Zusammenhang verstanden zu haben.

* Luiza Carolina dos Santos promovierte in Kommunikations- und Informationswissenschaften an der Bundesuniversität von Rio Grande do Sul (UFRGS) und ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Vorstand für Evaluation öffentlicher Politiken der Fundação Getulio Vargas (FGV DAPP).

** Danielle Sanches promovierte in Wissenschaftsgeschichte an der École des hautes études en sciences sociales (EHESS) in Kooperation mit der Stiftung Oswald Cruz (Casa de Oswaldo Cruz/FioCruz) und ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Vorstand für Evaluation öffentlicher Politiken der Fundação Getulio Vargas (FGV DAPP).

*** Die Äußerungen von Mitarbeitern der Fundação Getulio Vargas, die in Artikeln und Interviews allgemeiner Kommunikationskanälen als solche identifiziert sind, entsprechen ausschließlich den Meinungen der Autoren und nicht notwendigerweise der institutionellen Haltung der FGV.

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