Digitale Demokratie

Digitalisierung und Öffentlichkeit in Brasilien

Meinung | Tatenlosigkeit gegenüber Desinformation kann das Vertrauen in Wahlen beeinträchtigen

Studie des FGV DAPP zeigt Zunahme von Inhalten auf Facebook und YouTube, die die Integrität der brasilianischen Wahlprozesse zwischen 2014 und 2020 infrage stellen, ähnlich wie es heute in den USA geschieht

Amaro Grassi und Tatiana Dourado

Das Fehlen eines Plans seitens der brasilianischen Politik für die Bekämpfung schädlicher und antidemokratischer Inhalte in digitalen Umgebungen, die zu verbreiteten Missverständnissen und Desinformation führen, kann das Vertrauen der Gesellschaft in den brasilianischen Wahlprozess bald beeinträchtigen. Diese Warnung geht aus einer Studie hervor, die kürzlich vom Vorstand für Evaluation öffentlicher Politiken der Fundação Getulio Vargas (FGV DAPP) veröffentlicht wurde. Sie weist die im Lauf der letzten Jahre kontinuierliche Zunahme der Verbreitung von Postings auf, deren Narrative die Integrität der Wahlen in Brasilien anzweifeln.

Betrugsvorwürfe bezüglich der elektronischen Wahlgeräte, Manipulation der Stimmenauszählung, Wahlbetrug und diverse Angriffe auf das System der brasilianischen Wahljustiz nehmen seit 2014 auf Plattformen wie Facebook und YouTube zu. Demzufolge entstand eine Fülle an Kritiken an den Wahlen, die jederzeit von politischen Akteuren zur Anfechtung der Wahlergebnisse instrumentalisiert werden können.

Die Informierung über die Sicherheit und Integrität des Systems der elektronischen Wahlgeräte ist somit ein Anliegen, das von der Wahljustiz verfolgt werden soll. Das Modell des elektronischen Wahlgeräts, das 1996 eingeführt wurde und seitdem vervollkommnet wird, ermöglichte den automatischen Prozess von Stimmabgabe und Stimmenauszählung für 100% der Wählerschaft im Jahr 2000 in Brasilien. Informationen, Entschlüsse, Konsultationen und Überprüfung bezüglich der elektronischen Wahlgeräte können auf der Website des Obersten Wahlgerichts nachverfolgt werden.

Außer den Verfahren und Mechanismen, die die Diskussion, Entscheidungen und Beteiligung der Öffentlichkeit einbeziehen, entwickelt sich die Online-Diskussion über das Thema jedoch weit entfernt von der demokratischen Kritik. Stattdessen wendet sie sich zunehmend gegen die Glaubwürdigkeit des Wahlsystems und stellt die Legitimität der Wahlen infrage.

Derartige systemfeindlichen Nachrichten tauchen selbstverständlich nicht isoliert auf den Social-Media-Plattformen auf. Im Gegensatz dazu erscheinen sie im Einklang mit den Ereignissen des öffentlichen Lebens, wie die jüngsten Aussagen des Präsidenten Jair Bolsonaro veranschaulichen. Bolsonaro behauptete, dass er im Besitz von Beweisen zum Wahlbetrug im Jahr 2018 sei und dass „alles in Zukunft mit Betrug geändert werden kann“. Wissenschaftliche Untersuchungen, die sich mit Themen wie Fake News und digitale Desinformationskampagne auseinandersetzen, stoßen zwangsläufig auf Verschwörungstheorien zu Wahlen.

Die Studie „Digitale Desinformation und Wahlen in Brasilien“, die am 6. November vom FGV DAPP veröffentlicht wurde, sammelt Postings mit Links über das Misstrauen gegenüber dem Wahlsystemwieder, die von 2014 bis 2020 auf Facebook und YouTube verbreitet wurden. Sie beabsichtigt die Verbreitung von Links in Wahl- und Nichtwahljahren zwischen 2014, nach den Protesten in Brasilien 2013, und 2020, als die letzten Kommunalwahlen stattfanden, nachzuvollziehen.

Es wurde unter anderem festgestellt, dass die Anzahl von online verbreiteten Nachrichten dauerhaft und zunehmend ist, einschließlich in Nichtwahljahren und in Kommunalwahljahren wie 2020. Wie erwartet, stellen die Ereignisse des Jahres 2018 einen großen Anteil der der gesamten Daten dar, gefolgt von denen des Jahres 2020. Die Analyse zeigt, dass die Anzahl von Postings im September 2020 auf YouTube beispielsweise der vom Oktober 2018, Monat der allgemeinen Wahlen, nahezu entspricht.

Ein anderer auffallender Aspekt ist die Tatsache, dass die Inhalte, die die Transparenz des Wahlsystems infrage stellen, im Internet leicht zugänglich sind. Sie werden jahrelang ungeniert auf den Social-Media-Plattformen verbreitet. Unter Berücksichtigung der Daten, die auf Facebook und YouTube erfasst wurden, sind noch mehr als zehntausend Links aus dem Jahr 2014 in unterschiedlichen digitalen Umgebungen vorhanden. Viele der Links, die 2020 eine hohe Anzahl von Interaktionen erzeugten, waren ursprünglich 2014 veröffentlicht worden.

Ein anderes Beispiel ist der im analysierten Zeitraum auf Facebook meistgeteilte Link, der in allen Jahren zwischen 2016 und 2019 verbreitet wurde. Hier wird darauf bestanden, dass die hyperparteiische und polarisierte politische Landschaft, die Desinformation erzeugt, von Inhalten, die in politisch geeigneten Momenten wiederbenutzt und weiterverbreitet werden können, bestimmt wird.

Risiko für das Jahr 2022

Die Studie deckt den erheblichen (und wachsenden) Umfang solcher Inhalte, die in den letzten sieben Jahren in digitalen Umgebungen frei verbreitet wurden, auf. Sie identifiziert aber auch ein immer größer werdendes Risiko, dass dieses Szenario das Vertrauen in den brasilianischen Wahlprozess nachhaltig beeinträchtigt. Politischen Akteuren, die das Untergraben der Glaubwürdigkeit der Wahlen beabsichtigen, stehen also Tausende von auf digitalen Plattformen verbreiteten Inhalten zur Verfügung. Für diesen Zweck genügt also eine gut entwickelte Strategie, die die Wähler mit betrügerischen und falschen Informationen über die Integrität des Prozesses überflutet.

Demzufolge lässt sich eine sorgfältige Vorbereitung für künftige Anfechtungen von Wahlergebnissen beobachten, wie es momentan der Fall in den USA ist. Die Situation in Brasilien wird durch eine größere institutionelle Schwäche erschwert, was die Bekämpfung solcher Strategien schaden kann. Die Zukunftsaussicht ist daher eine ernste Bedrohung der Glaubwürdigkeit des fortgeschrittenen und effizienten Wahlsystems, das vom Oberste Wahlgericht und anderen Instanzen der Wahljustiz geleitet wird und eine der wichtigsten Errungenschaften der brasilianischen Demokratie ist. Der Vergleich mit dem amerikanischen Wahlsystem bekräftigt diese Perspektive.

In diesem Moment ist Tatenlosigkeit unangebracht. Auch Haltungen, die lediglich auf die Risiken für das brasilianische Wahlsystem, die Demokratie selbst und das Vertrauen in diese seitens der Brasilianer hinweisen, sind von Nachteil. Es ist dringend notwendig, Maßnahmen zu ergreifen, um die freie Verbreitung derartiger Inhalte in digitalen Umgebungen einzudämmen und abzumildern.

Dieser Artikel wurde aus erster Hand auf der Website Congresso em Foco veröffentlicht.

*Die Äußerungen von Mitarbeitern der Fundação Getulio Vargas, die in Artikeln und Interviews allgemeiner Kommunikationskanälen als solche identifiziert sind, entsprechen ausschließlich den Meinungen der Autoren und nicht notwendigerweise der institutionellen Haltung der FGV.

 

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