Digitale Demokratie

Digitalisierung und Öffentlichkeit in Brasilien

Meinung | Verschwörungen, Fake News und andere Gefahren des Mythos „Betrug mittels elektronische Wahlgeräte“

Systemfeindliche Aktionen mittels Desinformationskampagnen haben konkrete Folgen für die demokratischen Prozesse

Tatiana Dourado* **

Verschwörungen halten sich normalerweise an ungewöhnlichen, unmerklichen und oft unvorstellbaren Aspekten fest, um Paranoia und Wahnvorstellungen aufrechtzuerhalten. Einige Erwähnungen von „cheese“ und „pizza“ in den Emails vom Hillary Clintons Wahlkampfchef, die 2016 auf Wikileaks veröffentlicht wurden, genügten Nutzern von 4Chan und Reddit, die Initialen „C“ und „P“ mit „child pornography“ zu assoziieren und eine Reihe von Spekulationen auf einen angeblichen Kinderpornoring in Restaurants loszutreten. Im Jahr 2020 erregten die Verschwörungstheorien der Qanon Bewegung die größte Aufmerksamkeit in den Vereinigten Staaten. Auch sie behaupten mindestens seit 2017, es gebe ein Komplott gegen Donald Trump. Dieses sei von einer Elite – oder dem „Deep State“-, die weltweit Pädophilie und Satanismus praktiziere, kontrolliert. Nach dem 3. November 2020 und der Konsolidierung der Niederlage des Republikaners gewann die These des Wahlbetrugs noch an größere Bedeutung in den USA. Nicht zufällig ist dies ein Thema, das systemfeindliche Kräfte auch bei den Kommunalwahlen 2020 in Brasilien mobilisierte.

Die Faktencheck-Koalition zum Wahlprozess, die vom Obersten Wahlgericht in Kooperation mit brasilianischen Projekten durchgeführt wird, errechnete ca. 30 komplett falsche Fakten im November (bis zum 18.), die zwischen der ersten und zweiten Wahlrunde auf Social-Media-Plattformen verbreitet wurden. Diese erfundenen Geschichten, deren Unwahrheit wissenschaftlich bewiesen wurde, gaben zum Beispiel an: Die Stimmabgabe sei optional für über 60-Jährige; die an COVID erkrankten Menschen dürften nicht wählen; die Stimmabgabe werde ohne eine Bescheinigung nicht berechnet; die Codes der Wahlgeräte seien Venezuela übergeben worden; die Wahlen würden annulliert, wenn 51% der Wähler ihre Stimme annullieren; das Oberste Wahlgericht habe WhatsApp zensiert, um Anklagen hinsichtlich des Wahlcomputers zu verhindern; Speicherkarten von Wahlgeräten seien in einer Toilette gefunden worden und so weiter. Eine der Folgen des Glaubens, dass die in ein elektronisches Wahlgerät abgegebene Stimme anderem Kandidaten diene oder nicht von der Wahljustiz betrachtet werde, ist die Validierung der Fake News.

Dieser Glaube hat noch konkretere Konsequenzen. Verhaftungen auf frischer Tat wegen Videoaufnahmen in den Wahlkabinen und Tumulte in Wahllokalen, die die Wähler aufgrund ihrer eigenen Fehler bei der Stimmabgabe erzeugen, werden immer häufiger. 2020 wird über Verhaftungen wegen Verletzung des Wahlgeheimnisses in den Bundesländern Alagoas, Paraná und Rondônia berichtet. Der Hackerangriff auf das Wahlsystem bei der ersten Wahlrunde, der die Infragestellung dessen Sicherheit beabsichtigte, war jedoch unerwartet. Es hätte keine günstigere Episode für die Verschwörungstheorien zu Wahlen geben können. Sie kamen aus dem digitalen Untergrund heraus, werden bei der jetzigen zweiten Wahlrunde in aller Öffentlichkeit verbreitet und könnten neue Thesen bis 2022 bestärken. Nahezu täglich treten die Wörter „Wahlgeräte“, „Betrug, „Smartmatic“, „Borroso“ usw. in den Trending Topics bei Twitter auf. Wenn die hohe Anzahl von Nachrichten über systemfeindliche Ereignisse zum Online-Buzz wird, handelt es sich um starke Anzeichen von Instrumentalisierung der durch künstliche Intelligenz betriebenen Medien wie die Verwendung von Bots, die eine spontane kollektive Aktion simulieren. Die Trending Topics bei Twitter wirken als ein Thermometer der Themen, die auf dem Mikroblog in einem bestimmten Moment am meisten vorkommen, und unterstützen oft Desinformationskampagnen. Solche orchestrierte Aktionen werden gleichzeitig auf anderen Plattformen wie Facebook und WhatsApp, die zu den populärsten gehören, ausgelöst. Diese Methoden sind Strategien zur Bestimmung von Themen, Mobilisierung des Publikums, Verbreitung von Memes und Fake News, Erzeugung gesellschaftlicher Unruhe und Legitimierung ungeeigneter Diskussionen.

Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass ein vom FGV DAPP veröffentlichter Bericht bereits kurz vor der ersten Wahlrunde und dem Hackerangriff auf das Wahlsystem auf den beachtlichen Umfang von gefährlichen Diskursen in diesem Jahr auf Facebook und YouTube aufmerksam gemacht hatte. Anhänger von Verschwörungstheorien, zu denen der Mythos über Betrug durch elektronische Wahlgeräte gehört, hinterfragen nicht was sie glauben und sind selten inaktiv. Im Gegensatz dazu bleiben sie aufmerksam für neue Entdeckungen, recyceln Hypothesen und wiederholen Argumente, um gegenteilige Meinungen zu widerlegen, Ereignisse abzulehnen und wissenschaftliche Beweise ungültig zu machen. Verschwörungen könnten also nur Verschwörungen sein, wenn sie sich nicht in Angriffe entfalten würden, wie beispielweise diejenige, die in den letzten Jahren von Hassrede gegen Immigranten motiviert wurden, und wenn sie nicht auf dem politischen Feld und den Wahlkontexten, wie der vorliegende Text veranschaulicht, basiert hätten. Verschwörungstheorien haben reale Konsequenzen und werden bei dem Misstrauen gegenüber dem Wahlsystem, das das elektronische Wahlgeräte zum Sündenbock macht, immer sichtbarer.

*Tatiana Dourado ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am FGV DAPP, Journalistin mit von der Bundesuniversität von Bahia (UFBA) verliehenem Doktortitel in Kommunikations- und Zeitgenössischer Kulturwissenschaft und assoziierte Forscherin am Nationalen Institut für Wissenschaft und Technologie in Digitaler Demokratie (INCT.DD). Ihr Forschungsbereich umfasst Fake News, politische Kommunikation und digitale Demokratie. tatiana.dourado@fgv.br | @tatianama

**Die Äußerungen von Mitarbeitern der Fundação Getulio Vargas, die in Artikeln und Interviews allgemeiner Kommunikationskanälen als solche identifiziert sind, entsprechen ausschließlich den Meinungen der Autoren und nicht notwendigerweise er institutionellen Haltung der FGV.

Newsletter

Newsletter abonnieren