Digitale Demokratie

Digitalisierung und Öffentlichkeit in Brasilien

Ein Jahr Krieg in der Ukraine

Akteur*innen und ideologische Artikulation in der brasilianischen Debatte über den Konflikt

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1. EXECUTIVE SUMMARY

Zusammenfassung:

Diese Studie analysiert die Entwicklung der öffentlichen Debatte in Brasilien über den Ukraine-Krieg ein Jahr nach dessen Beginn. Dabei werden unterschiedliche Plattformen berücksichtigt. Auf der Grundlage der Analyse von Postings auf Twitter, Facebook und Telegram zwischen Februar und März 2023 zeigt die Studie, dass das öffentliche Engagement nach wie vor gering ist und die Teilnahme von Akteur*innen und Gruppen der Rechten an der Debatte überwiegt, insbesondere von Anhänger*innen des ehemaligen Präsidenten Jair Bolsonaro. Die Gruppe, die die Ukraine offenbar unterstützt, wird nicht von Akteur*innen aus der institutionellen Politik angeführt, sondern von Meinungsbildner*innen, die im Allgemeinen ihre Begeisterung für das diplomatische und pazifistische Verhalten des Präsidenten Lula zum Ausdruck bringen. Extremistische und verschwörerische Diskurse verbreiten sich auf den analysierten Plattformen, wo sie hohe Sichtbarkeit erlangen, und stimmen mit rechtsextremen Auffassungen überein, indem sie die vollständige Ablehnung der westlichen Kultur und intolerante Diskurse gegenüber Minderheiten in den Mittelpunkt stellen.

Schlüsselwörter:

Krieg in der Ukraine; öffentliche Debatte in Brasilien; Rechtsextremismus; Intoleranz

ZUSAMMENFASSUNG DER ERGEBNISSE

  • Ein Jahr nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine lässt sich eine noch geringe Beteiligung der öffentlichen Meinung an der Debatte über den Konflikt beobachten. In der Twitter-Debatte übernehmen rechte Akteur*innen und deren russlandfreundliche Ansichten eine führende Rolle; die Gruppen, die die Ukraine unterstützen, bestehen hauptsächlich aus progressiven Meinungsbildner*innen.
  • Was das rechte Engagement betrifft, zeichnen sich Postings zugunsten des russischen Präsidenten Wladimir Putin aus, dessen Kritik am Westen überhöht wird. Dabei lassen sich LGBTIQ*-feindliche Diskurse hervorheben.
  • Akteur*innen aus einem breiten ideologischen Spektrum halten an negativen Einschätzungen der Vereinigten Staaten und der NATO fest; weiterhin wird die mediale Behandlung des Krieges häufig als einseitig im Vergleich zu anderen geopolitischen Konflikten kritisiert.
  • Die Annäherung zwischen Lula und Wolodymyr Selenskyj Anfang März beflügelte die Debatte mit positiven Äußerungen zur diplomatischen Strategie der brasilianischen Regierung seitens der nationalen und internationalen Medien. Auf diese Weise hob sich die brasilianische Führung im Block der lateinamerikanischen Länder ab, die bis dahin von Kritiker*innen als „neutral“ in Bezug auf den Konflikt angesehen wurden.
  • Auf Facebook gehörte Lula zu den meisterwähnten Namen in den analysierten Veröffentlichungen. Der Präsident wurde oft als Verantwortlicher für eine vermeintliche Wiederherstellung der internationalen Glaubwürdigkeit der brasilianischen Diplomatie genannt.
  • Die Frage der Treibstoffe mobilisierte die mit der konservativen Rechten verbündeten Gruppen. Die Wiedereinführung der Treibstoffsteuern in Brasilien gab Anlass zur Kritik an der aktuellen Regierung, der eine, allerdings nur scheinbare, wirtschaftliche Entwicklung unter der vorherigen Regierung trotz des Krieges gegenübergestellt wurde. Diskussionen über Cybersicherheit, die Rolle Chinas in dem Konflikt und die vom russischen Präsidenten geschürte moralische Panik gehören nach wie vor zu den am meisten debattierten Themen auf der Plattform.
  • Auf Telegram nehmen extremistische Diskurse und die Verbreitung von Verschwörungstheorien unter den beobachteten Gruppen einen hohen Stellenwert ein, wobei politische Gruppen der Rechten eine hervorzuhebende Rolle spielen.

 

2. ERGEBNISSE UND DISKUSSION

1) Entwicklung der Debatte über den Krieg in der Ukraine

Diagramm 1 – Entwicklung der Twitter-Debatte über den Krieg in der Ukraine
Zeitraum: vom 14. Februar bis zum 21. März 2023 - 78.300 Tweets

Quelle: Twitter | Gestaltung: FGV-ECMI

. Quelle: Twitter | Gestaltung: FGV-ECMI

Kurz vor dem ersten Jahrestag des Kriegsbeginns sorgte Putins Rede an die russische Nation, in der er den Westen verunglimpfte und mit Atomwaffen drohte, für die Erweiterung der Debatte und dafür, dass die Erwähnungen zum Thema im analysierten Zeitraum einen Höhepunkt erreichten. In einem erheblichen Teil der Nachrichten, auch in denen der traditionellen Medien, ließ sich die Angst vor einem möglichen Einsatz von Atomwaffen in diesem Krieg beobachten, wobei die Gefahr einer nuklearen Tragödie aufgrund der Entwicklung des Konflikts und vor allem Putins Äußerungen zu diesem Thema ausschlaggebend war.

Am 24. Februar 2023, als der Konflikt sich jährte, wurde ebenso ein deutlicher Anstieg der Anzahl von Erwähnungen festgestellt. Putins Äußerungen mobilisierten die Diskussion vor allem durch die Behauptung, die Vereinigten Staaten seien der wahre Feind Russlands, und die Ankündigung der Aussetzung des Atomwaffenvertrags „New Start“ zwischen beiden Ländern. Auch das von Putin zur Rechtfertigung des Krieges vorgebrachte Argument gegen den Westen fand in der Diskussion großen Anklang, insbesondere im progressiven Lager. Dem russischen Präsidenten zufolge wäre der Konflikt eine kulturelle Opposition zum Westen, den er direkt mit Nationalsozialismus, Pädophilie und gleichgeschlechtlicher Ehe in Verbindung brachte.

Die Ankündigung, dass die Ukraine Friedensvorschläge Brasiliens bei den Vereinten Nationen akzeptiert habe, fand am 18. Februar großen Widerhall, nachdem kritisiert worden war, dass die lateinamerikanischen Länder eine neutrale Haltung bezüglich des Konflikts eingenommen hätten. Nachdem die Debatte im Zuge des einjährigen Kriegsjubiläums sich allmählich abschwächte, verstärkte sie sich wieder ab Anfang März und stabilisierte sich anschließend. Dies geschah aufgrund des Gesprächs zwischen Lula und Selenskyj am 2. März, das in einem Tweet zusammengefasst wurde, in dem der PT-Politiker erklärte, dass der Krieg „für niemanden gut ist“ und dass „Brasilien sich an allen Bemühungen um Frieden beteiligen wird“.

Zwischen dem 17. und 21. März nahm die Debatte weiter zu, was wiederum mit der Nachricht zusammenhing, dass Chinas Präsident, Xi Jinping, Putin in Moskau besuchen würde, was am 20. März geschah und die Beunruhigung über die Folgen eines vermeintlichen Waffendeals zwischen den beiden Ländern auslöste.

 

2) Öffentliche Debatte

 

Visualisierung 1 - Twitter-Debatte über den Krieg in der Ukraine
Analysierter Zeitraum: vom 14. Februar bis zum 21. März 2023

Quelle: Twitter | Gestaltung: Hochschule für Kommunikation, Medien und Information der FGV

. Quelle: Twitter | Gestaltung: Hochschule für Kommunikation, Medien und Information der FGV

Prorussische Rechte (blau) ‒ 31,5 % der Profilseiten | 39,1 % der Interaktionen

Rechtsorientierte Nutzer*innen, die im Allgemeinen pro-russisch eingestellt sind, bilden die größte Gruppe in der Debatte. In der Diskussion auf der Plattform stechen Influencer*innen heraus, die mit dem politischen Feld der nationalen und der internationalen Rechten verbunden sind. Ihre Profilseiten haben zwischen 50.000 und 100.000 Follower und sind teilweise anonym. Dies ist bei Accounts wie @verdadesenadama, @danvitorph, @vanliberdade und @misteriouspavao der Fall. Inhaltlich sind Putin-freundliche Beiträge hervorzuheben, wobei seine Rede am 21. Februar für seine Kritik am Westen und den mit diesem Standort verbundenen Verhaltensweisen wie Homosexualität gelobt wird. Ein weiterer gelobter politischer Akteur ist der ehemalige Präsident Donald Trump, der ein Video veröffentlichte, in dem er auf die Möglichkeit eines Dritten Weltkriegs hinweist, falls die Vereinigten Staaten ihre Haltung zu dem Konflikt beibehalten. Darüber hinaus wird häufig Kritik an der Ukraine, der NATO und der Regierung Biden geübt. Allgemein wird ihnen ein ähnliches oder noch schlimmeres Verhalten vorgeworfen als dem, das Russland von den „westlichen“ und „globalistischen“ Medien zugeschrieben wird. Dazu werden Demonstrationen in europäischen Ländern, die sich kritisch gegenüber der NATO äußern, als Beispiele für die Zustimmung zu Russlands Handeln genannt. Das Treffen zwischen Putin und Xi Jinping wird ebenfalls in Beiträgen der Gruppe thematisiert, welche die Partnerschaft zwischen der Ukraine, den Vereinigten Staaten und China bei der Laborproduktion des COVID-19-Virus belegen würden. Dieses Thema wird mit einem Schwerpunkt auf die Kritik an den Vereinigten Staaten erwähnt, ohne die Beziehung zwischen Russland und China hervorzuheben. China taucht in der Gruppe auf kontroverse Weise auf, da das Land wegen seiner angeblichen Beteiligung an der Herstellung des COVID-19-Virus kritisiert, aber gleichzeitig für die angebliche Ernsthaftigkeit, mit der es sich dem Osten und nicht dem Westen verbunden fühlt, gelobt wird. Obwohl die Gruppe nicht zu denjenigen mit den meisten Profilseiten auf der Plattform gehört, sticht sie dadurch hervor, dass sie aus prominenten Profilseiten besteht und mit prorussischen Accounts interagiert. Dazu gehören Anhänger*innen des Bolsonarismus, wie der Bundesabgeordnete @bolsonarosp, die Influencer @adilsonesp und @alertatotal sowie Vertreter*innen der rechtsorientierten traditionellen Presse wie @terrabrasilnot. In den seltenen Fällen, in denen sich die Profilseiten zu dem Konflikt selbst äußern, kritisieren sie vor allem die Aussicht, dass Lula den Krieg mit einem Friedensvorschlag beenden könne.

Bild 1 – Beispiele von Tweets aus dem blauen Cluster

Quelle: Twitter

. Quelle: Twitter

Regierungsnahe Gruppe (rot) – 21,3 % der Profilseiten | 25,8 % der Interaktionen

Regierungsnahe Profilseiten machen die zweitgrößte Gruppe aus. Das wichtigste Thema, das diese Gruppe behandelt, ist die Haltung Lulas zum Ukraine-Krieg, die von Profilseiten wie der Bundesabgeordneten @mariadorosario und des Journalisten @cesarcalejon1 positiv bewertet wird. Zur Gruppe gehören ebenso institutionelle Profilseiten wie @lulaoficial und @planalto, welche die Äußerungen des Präsidenten mitteilen. Der Friedensvorschlag Lulas wurde in linksgerichteten Medienkanälen wie @brasil247 positiv hervorgehoben. In einer weniger zentralen Position in der Gruppe lässt sich eine Untergruppe beobachten, die aus Profilseiten besteht, die in Verbindung mit der nationalen sowie internationalen radikalen Linken stehen, die sich für Russland positionieren und die NATO kritisieren, wie @luizazenha23, @camaradamachado und @vermelhos_sim. Sie zeichnen sich in der Gruppe aus, indem sie die Haltung des Präsidenten als „unterwürfig“ oder „gehorsam“ abwerten und sie angesichts der internationalen Lage als wenig an den nationalen Interessen orientiert einstufen. Die Ereignisse im Zusammenhang mit dem von Lula vorgeschlagenen Abkommen und die internationale Rezeption wurden in einem weniger meinungsfreudigen Ton der Profilseiten von Kanälen wie @metropoles sowie von Profilseiten zur systematischen politischen Beobachtung wie @eixopolítico und @centralpolitcs berichtet.

Bild 2 – Beispiele von Tweets aus dem roten Cluster

Quelle: Twitter

. Quelle: Twitter

Proukrainische Meinungsbildner*innen (gelb) ‒ 15,1 % der Profilseiten | 17,5 % der Interaktionen

Die Gruppe besteht aus Profilseiten zur unabhängigen Berichterstattung zu militärischen Themen sowie aus Zeitungen und Journalist*innen der traditionellen Presse und zeichnet sich durch Lageberichte und Kommentare zum Krieg in der Ukraine aus. Diese auf Militarismus und Journalismus spezialisierte Berichterstattung ist durch die Befürwortung der Ukraine und in geringerem Maße der Vereinigten Staaten gekennzeichnet. Accounts wie @hoje_no, @diretofront und @noticiaeguerra mobilisieren diese Nachrichtennische zur Beobachtung militärischer Themen, teilen Nachrichten, audiovisuelle Inhalte sowie Kommentare zum Konflikt mit und heben Putin und Russland zugeschriebenen Taten auf negative Weise hervor. Gelegentlich betonen sie Ereignisse, die für die Ukraine, die Vereinigten Staaten und die NATO als positiv zu betrachten sind. Andere Journalist*innen wie @rodrigodasilva (Spotniks), @caioblinder (TV Cultura), @yanboechat (freier Journalist) und @sampancher (Metrópoles), die sich zugunsten der Ukraine äußern, üben scharfe Kritik an Putin, stufen ihn als „Agressor“ ein und bewerten den Angriffskrieg als geplanten Genozid. Die Unterstützung Russlands seitens progressiver Personen wird von Twitter-Nutzer*innen in dieser Gruppe ebenfalls kritisiert. Schließlich werden auf den Zeitungsprofilseiten wie @metropoles, @globonews und @cnnbrasil Nachrichten verbreitet, die zwar keine direkte Meinungsäußerung enthalten, aber sich positiv auf die Unterstützung der Ukraine auswirken, indem sie über Vergewaltigungsvorwürfe durch die russische Armee, den vom Internationalen Strafgerichtshof erlassenen Haftbefehl gegen Putin und weitere Inhalte berichten, die auf die Angriffe oder das zu verurteilende Verhalten Russlands gegenüber der Ukraine und den Ukrainer*innen hinweisen. Die Gruppe deutet auf die Möglichkeit hin, dass nicht politische Akteur*innen, sondern Meinungsbildner*innen eine führende Rolle bei der Unterstützung der Ukraine spielen.

Bild 3 – Beispiele von Tweets aus dem gelben Cluster

Quelle: Twitter

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Progressive Kritiker*innen der USA (grün) – 6,2 % der Profilseiten | 3,9 % der Interaktionen

Die Gruppe bringt Meinungsbildner*innen zusammen, die weder Russland noch der Ukraine gegenüber aktiv eine positive Haltung einnehmen, aber eine progressive Haltung haben und/oder geopolitischen Analysen widmen. Ein gemeinsamer Punkt sind Inhalte und Positionen, welche die Vereinigten Staaten und die NATO negativ bewerten und als verantwortlich für das Leiden in der Ukraine einstufen. Außerdem wird der internationalen Gmeinschaft vorgeworfen, die beiden Akteure mit Nachsicht im Vergleich zu Russland zu behandeln. Länder wie Saudi-Arabien, die Arabischen Emirate und Israel werden wegen ihrer Haltung zum Krieg, die parteiisch sei, erwähnt. Zudem werden die mediale, politische und soziale Herangehensweisen bezüglich des Ukraine-Krieges negativ bewertet und anderen Konflikten wie dem Israelisch-Palästinensischen gegenübergestellt. Die Profilseiten des Historikers @rianhez (Guia Rússia), @JornalismoWando (The Intercept Brasil) und des Geopolitik-Podcasts @copaalemdacopa kritisieren das, was sie „Einseitigkeit“* bei der Empörung über Menschenrechtsverletzungen nennen. [bias, Parteilichkeit?] In dieser Gruppe steht die Positionierung zugunsten Russlands oder der Ukraine nicht im Mittelpunkt, auch wenn die Kritik an den Vereinigten Staaten gelegentlich zur Kritik an einer beider Länder führt.

Bild 4 - Beispiel von Tweets aus dem grünen Cluster

Quelle: Twitter

. Quelle: Twitter

Unterhaltungsprofilseiten (lila) – 5,6 % der Profilseiten | 3,4 % der Interaktionen

Auf den Profilseiten @choquei und in geringerem Maße @updatecharts kommentieren die Plattform-Nutzer*innen über den diplomatischen Vorschlag Lulas. Die Entfaltungen davon werden von den zentralen Profilseiten und Äußerungen in dieser Gruppe mit Schwerpunkt auf der positiven Rezeption des Vorschlags berichtet. Neben dieser zentralen Diskussion sind parallele Debatten über den Krieg im Allgemein zu erkennen, wie Tweets von @choquei und @updatecharts, die über den Konflikt regelmäßig berichten.

Bild 5 – Beispiele von Tweets aus dem lila Cluster

Quelle: Twitter

. Quelle: Twitter

3) Wichtigste Diskurse

In diesem Abschnitt werden die Themen in Bezug auf den Krieg in der Ukraine, die am meisten auf Facebook angesprochen werden. Dabei werden sowohl die Anzahl von Interaktionen als auch die Inhalte der Postings in Betracht gezogen. Dafür wurde auf einen Korpus von 18.241 Postings aus dem Zeitraum zwischen dem 14. Februar und dem 21. März 2023, in dem 2.503.961 Interaktionen erzeugt wurden, zugegriffen. Die Anzahl von Postings erreichte den Spitzenwert am 24. März, als der Krieg sich jährte, und betrug ca. 2.300. Der Zugriff auf diese Inhalte erfolgte über das Recherchetool CrowdTangle, das von Facebook/Meta zur Verfügung gestellt wurde, um Postings von Profilseiten, verifizierten Profilseiten und/oder öffentlichen Gruppen verfolgen zu können.

Die Analyse der Themen, die auf Facebook hervorstachen, erfolgte mithilfe der Technik der Themenmodellierung, die auf linguistischen Modellen basiert. Dieses Modell stellt den Text in einem kontinuierlichen niedrigdimensionalen semantischen Raum dar und clusterisiert die Dateien, um die vorherrschenden Themen zu finden. Die Darstellung jedes Themas wird mittels einer Klassifikation berechnet, welche die Relevanz jedes Begriffs in dem Cluster, zu dem er gehört, berücksichtigt. Mit diesem methodischen Ansatz stachen Postings über politische Akteur*innen in Zusammenhang mit dem Krieg, die Rolle Chinas bei dem Konflikt, Cybersicherheit, moralische Panik und Treibstoffe hervor.

Diagramm 2 – Politische Akteur*innen in der öffentlichen Facebook-Debatte über den Krieg in der Ukraine
Analysierter Zeitraum: vom 14. Februar bis zum 21. März 2023

Quelle: Facebook | Gestaltung: FGV-ECMI

. Quelle: Facebook | Gestaltung: FGV-ECMI

Die Gruppierung von Begriffen stellte die Handlungen politischer Akteur*innen gegenüber kriegsbezogenen Themen in den Mittelpunkt. Lula und Vladimir Putin waren die am meisten erwähnten Namen in den Postings. Dabei wurde Lula oft mit der Möglichkeit eines Waffenstillstandsvorschlags und Putin mit der Rolle von Atomwaffen bei dem Konflikt in Verbindung gebracht. In geringerem Maße wurde Volodymyr Selenskyj – vor allem im Rahmen seines Gesprächs mit Lula – in diesen Beiträgen erwähnt. Auszüge aus journalistischen Sendungen, z. B. von CNN Brasil, und die offizielle Position der brasilianischen Regierung zu dem Konflikt herrschten in der Gruppe vor. Daneben trat Papst Franziskus auch als wichtiger politischer Akteur in Erscheinung, als es beispielsweise gezeigt wurde, wie er ein Gebet leitete, während er sich eine Dokumentation über den Krieg ansah.

Bild 6 – Lula und Selenskyj als politische Akteure in der Facebook-Debatte

Quelle: Facebook

. Quelle: Facebook

Trotz der kleineren Menge von Postings spielten Videos von digitalen Influencer*innen eine relevante Rolle in der Gruppe, insbesondere diejenige, die den Lula zugeschriebenen Friedensvorschlag positiv kennzeichnen. In diesen Videos wurde der brasilianische Präsident als ein einflussreicher und pazifistischer politischer Akteur betrachtet und der angeblichen Wiederherstellung der internationalen Glaubwürdigkeit der brasilianischen Diplomatie zugeschrieben. In geringerem Maße wurde der deutsche Kanzler, Olaf Scholz, als Folge dessen erwähnt, dass Lula sich weigerte, der Ukraine Munition für den Einsatz gegen Russland zu liefern. Dabei wurde berichtet, dass Deutschland ein Embargo für den Export von Guarani-Panzern, die deutsche Bauteile enthalten, als Vergeltungsmaßnahme gegen Lula verhängt habe.

Auf Seiten, die Kriege allgemein thematisieren, wurde eine relevante Anzahl von Postings festgestellt, die Licht auf einfache Soldat*innen warfen, die im Konflikt schwer verletzt wurden oder gestorben sind. Allerdings erzeugten diese Postings ein kleines Engagement im Vergleich zu den anderen erwähnten Themen. In der Regel wurde das Thema von Ukrainer*innen oder Brasilianer*innen, die am Krieg beteiligt waren, angesprochen. Diese Postings zielten darauf ab, die Leistung von Soldat*innen auf heroische Weise vorzustellen und ihre Geschichten zu vermenschlichen, wodurch sie durch ihre Geschichte und Identität zu politischen Akteur*innen bei dem Konflikt werden.

 

4) Mobile Medien

Bild 11 – Debatte über den Krieg in der Ukraine in Telegram-Gruppen
Analysierter Zeitraum: vom 14. März bis zum 21. März 2023

Quelle: Telegram

. Quelle: Telegram

Mittels einer Schneeballauswahl, ausgehend von etwa 350 Kanälen und öffentlichen Gruppen auf Telegram, wurde ein nicht-probabilistischer Korpus analysiert, der auf einer nützlichen Methode basierenden Verweisungskette gründet, um in schwer zugängliche Umgebungen einzudringen. Es ließ sich eine hohe Aktivität von rechtsorientierten Gruppen und Kanälen beobachten, vor allem von Anhänger*innen des ehemaligen Präsidenten Jair Bolsonaro. Obwohl linksorientierte Gruppen und Kanäle wie diejenigen, die Lula gewidmet sind, ebenfalls aktiv in der Telegram-Debatte sind, ließ sich eine Vorherrschaft der Rechten feststellen.

Auf Telegram wurde eine Vielfalt von Standpunkten bezüglich des Krieges in der Ukraine identifiziert, die vor allem in politischen Gruppen (insbesondere der Rechten) und in Gruppen von Personen, die sich für Kriege im Allgemeinen und/oder den Konflikt auf ukrainischem Boden besonders interessieren, verbreitet werden.

Politische Gruppen, die Russland bewusst unterstützen und sich selbst als „national-revolutionär“ bezeichnen, wie z. B. Voz da Nova Resistência und Rebel Alliance, wurden beobachtet. Es ist die Rede davon, dass Russland präventiv auf geplante ukrainische Raketenangriffe reagiere. Der Donbass, wo die Ukraine angeblich chemische Waffen eingesetzt habe, wurde besonders häufig thematisiert. In diesen Gruppen wurde eine feindliche Haltung gegenüber der UN festgestellt.

Es wurden weitere rechtsradikale Gruppen mit relevanter Reichweite beobachtet, wie Geografia Planetária, die sich als QAnon, ein Zweig der extremen Rechten, der auf die Verbreitung von Verschwörungstheorien spezialisiert ist, zu erkennen gibt. Die zentrale Behauptung in diesen Umgebungen ist, dass das Engagement der USA in der Ukraine und die Ausdehnung der NATO auf die russische Grenze zu dem erwähnten Krieg geführt hätten.

In gemäßigten rechten Gruppen wird behauptet, dass die wirtschaftliche Entwicklung Brasiliens unter der Regierung Bolsonaro trotz mehrerer Faktoren, die diesen Fortschritt hätten behindern können, beachtlich war, wobei der Krieg in der Ukraine als einer davon angeführt wird. Ebenfalls in diesen Gruppen, aber auf sekundäre Weise, wurden Nachrichten über den Dialog zwischen Lula und Selenskyj geteilt. Obwohl diese Nachrichten nicht unbedingt ein Werturteil über die Annäherung zwischen den beiden Staatschefs zum Ausdruck brachten, lösten sie in der Gruppe überwiegend negative Reaktionen aus.

In Gruppen, die sich Kriegen widmen, wurde das erste Jahr des Konflikts aus der Perspektive des Lernens über Kriege im Allgemeinen betrachtet. So wurde beispielsweise das angebliche Scheitern der Wirtschaftssanktionen gegen Russland seitens der westlichen Länder, die sich gegen den Krieg waren, hervorgehoben.

Es wurde auch eine Reihe von Gruppen beobachtet, die sich direkt mit dem Konflikt in der Ukraine befassten, wie z. B. Invasão da Ucrânia e a última guerra da Rússia und Guerra Rússia vs Ucrânia. Insbesondere in der letztgenannten Gruppe wurde die Neigung zu einer stark kritischen Haltung gegenüber den Handlungen der russischen Regierung festgestellt. Obwohl diese Gruppen im Allgemeinen eine geringere Anzahl von Teilnehmer*innen haben, werden Beiträge häufig geteilt. In der Regel werden Bilder des Konflikts und Informationen über Angriffe, Waffen und Munition ausgetauscht.

 

3. FAZIT

Die vorliegende Studie knüpft an die Agenda und die Beobachtung der brasilianischen öffentlichen Debatte über den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine an. So wurde die Entwicklung der Debatte über den Krieg in der Ukraine im Zeitraum vom 14. Februar bis zum 21. März 2023 analysiert. Die Analyse auf Twitter umfasste 78.300 Tweets, während die wichtigsten Themen und Diskurse auf Facebook in einem Korpus von 18.241 Postings berücksichtigt wurden. Außerdem wurden zwischen dem 14. Februar und dem 14. März die Unterhaltungen in 576 Gruppen und Diskussionskanälen über Politik in der mobilen Anwendung Telegram beobachtet. Die Studien, die sich im Rahmen dieses Projekts mit dem Thema befassten, zeigten, dass das öffentliche Engagement zum Thema Krieg in digitalen Umgebungen im Allgemeinen gering ist. Jedoch lassen sich Spitzenwerten an der Anzahl von Interaktionen im Zusammenhang mit makropolitischen Ereignissen feststellen. Darüber hinaus stand das breitere öffentliche Engagement mit den Haltungen des ehemaligen brasilianischen Staatschefs in Verbindung. Im Gegensatz zur ersten Analyse (RUEDIGER/GRASSI 2022) zeigt die vorliegende Untersuchung, dass die Diskussion weder in den nationalen politischen Führungskräften verankert, noch von ihnen geleitet wurde. Die zentrale Rolle des Präsidenten Lula bei der Debatte wird hingegen in allen untersuchten Netzwerken beobachtet und durch seine Annäherung an den Präsidenten Wolodymyr Selenskyj Anfang März 2023 angetrieben. Allerdings erreichte die Debatte das höchste Engagement Ende Februar. Dies ist auf die Äußerungen des Präsidenten Wladimir Putin zurückzuführen, in denen er den Westen herabwürdigte, LGBTIQ*-Feindlichkeit vorantrieb und Angriffe mit Atomwaffen vorschlug. Aus einer querschnittlichen Perspektive ist unter den analysierten Plattformen eine vorherrschende Rolle rechtsorientierter Gruppen zu erkennen, mit Schwerpunkt auf den Anhänger*innen des ehemaligen Präsidenten Jair Bolsonaro. Diese Untergruppe, deren Beobachtung zeitlich begrenzt ist, bleibt kohärent und mobilisiert und führt das Engagement in der gesamten Gruppierung an. Obwohl das Lager, das sich um die Unterstützung der Ukraine zusammenfindet, zahlreicher ist und die Präsenz progressiver Meinungsbildner*innen anführt, lässt sich ihrerseits ein weniger energisches Engagement feststellen. Einerseits bietet dieser Mangel die Möglichkeit, dass dieser Streit schädliche Folgen für die öffentliche Debatte hat, indem extremistische, intolerante und verschwörerische Diskurse wiederkehrend und mit hoher Sichtbarkeit verbreitet werden. Andererseits verhindert dieser Mangel die Möglichkeit einer effizienteren politischen Organisation, die neue Perspektiven auf die Kampfstrategien entwickeln.

 

4. LITERATURVERZEICHNIS

ERNST, Nicole et al: Extreme parties and populism. An analysis of Facebook and Twitter across six countries. In: Information, Communication & Society, Bd. 20, Nr. 9, S. 1347 – 1364. 2017.

RUEDIGER, Marco Aurelio/GRASSI, Amaro (Hrsg.): Guerra na Ucrânia. Atores, propagandas e fluxos de informações on-line. Policy Paper. FGV-ECMI, Rio de Janeiro 2022.

5. Herausgeber

Forschungskoordination
Marco Aurelio Ruediger
Amaro Grassi

Forscher*innen
Renato Contente
Sabrina Almeida
Laura Pereira
Lucas Roberto da Silva
Mariana Carvalho
Thaís Rabello

Fachliche Prüfung
Renata Tomaz

Grafikdesign
Daniel Almada
Luis Gomes

 

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