Digitale Demokratie

Digitalisierung und Öffentlichkeit in Brasilien

Krieg in der Ukraine und Brasilianische politik

Akteure, Propaganda und Online-Informationsfluss

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1. Executive Summary

  • Die öffentliche Debatte in Brasilien über den Krieg in der Ukraine erreichte seinen Höhepunkt in der ersten Hälfte des Jahres 2022, noch bevor der Konflikt begann. Das Erreichen des Spitzenwerts bei den Interaktionen steht im Zusammenhang mit der Reise des Präsidenten Jair Bolsonaro nach Russland und den vermeintlich positiven Folgen des Treffens mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin für Brasilien.
  • Die regierungsnahe Gruppe ist verantwortlich für das größte Engagement. Sie lobt die Annäherung des Präsidenten Jair Bolsonaro an den russischen Präsidenten als strategische Maßnahme zum Schutz der diplomatischen Interaktion und der Handelsbeziehungen zwischen den beiden Ländern. Dabei sind die angebliche Gefährdung der Düngemittelversorgung sowie der Souveränität Brasiliens die meistkommentierten Themen.
  • Bezüglich der Anzahl der Profilseiten bilden die Kritiker der beiden Regierungen die Mehrheit. Sie zeigen eine breite thematische und ideologische Zersplitterung auf, wobei rechtsorientierte Akteure, die sich hauptsächlich um den ehemaligen Minister Sergio Moro scharen, überwiegen.
  • Der Präsident Jair Bolsonaro und der ehemalige Minister Sergio Moro sind zentrale Akteure im Streit der Narrative, die die brasilianische Debatte über den Konflikt zwischen der Ukraine und Russland ausmachen. Während Bolsonaro eine zweideutige Ansicht vertritt, verurteilt der ehemalige Minister die angebliche Übereinstimmung zwischen Bolsonaro und dem ehemaligen Präsidenten Lula bei der Unterstützung Russlands in dem Konflikt.
  • Die brasilianische institutionelle Linke spielt bei der Debatte eine unbedeutende Rolle; die Abwesenheit der Vertreter dieses politischen Spektrums wird von Kritikern als Distanzierung von den westlichen Demokratien gewertet.
  • Die Haltung und die Kriegshandlungen Russlands werden mit den Handlungen der Vereinigten Staaten und des US-amerikanischen Präsidenten Joe Biden verglichen, sowohl von regierungsnahen als auch von progressiven Profilseiten. In diesem Sinne wird auch die Rolle der NATO, des Westens und der extremen Rechten bei der Eskalation des Konflikts thematisiert.
  • Profilseiten, die sich der Unterhaltung und Memes widmen, ironisieren die Annäherung Bolsonaros an den russischen Präsidenten und weisen auf die Widersprüche und die schlechte Verwaltung seitens der brasilianischen Regierung hin.

2. Ergebnisse und diskussion

1) Zeitleiste

Die Entwicklung der Twitter-Debatte über den Krieg zwischen Russland und der Ukraine zeigt die drei prominentesten Gruppen auf: regierungsnahe Profilseiten; Profilseiten, die sowohl die brasilianische als auch die russische Regierung kritisieren; Unterhaltungsprofilseiten.

Diagramm 1 – Entwicklung der Twitter-Debatte über den Krieg in der Ukraine je nach Gruppe
Zeitraum: Vom 1. Januar bis zum 31. Mai 2022


. Quelle: Twitter | Gestaltung: FGV ECMI

Der Grafik zufolge sind die höchsten Werte bei den drei Gruppen zu Beginn des Krieges im Februar zu verzeichnen. Was die regierungsnahe Gruppe betrifft, so stellt die Woche ab dem 14. Februar mit 173.200 Beiträgen den Höhepunkt dar. In dieser Woche fand ein Treffen des Präsidenten Jair Bolsonaro mit dem Präsidenten Wladimir Putin in Russland statt. Die Tweets kolportieren, dass die Reise des brasilianischen Präsidenten einen dritten Weltkrieg verhindern würde. Ein weiterer Höhepunkt wurde am 24. Februar erreicht, als der Präsident Jair Bolsonaro den Brasilianern, die sich auf ukrainischem Territorium aufhielten, seine Solidarität erklärte, Schutz und Unterstützung zusicherte und die Dienste der brasilianischen Botschaft für die Begleitung und mögliche Rückkehr nach Brasilien anbot. Auch die Tweets von Unterhaltungsprofilseiten heizten die Debatte an, indem sie ironisch und hemmungslos darauf hinwiesen, dass es in der russischen Armee keine Transgender, Schwarze, Frauen, umweltbewusste Artillerie oder geimpfte Soldaten gebe.

Unter den Gegnern der brasilianischen und der russischen Regierung wurde das größte Engagement, aus dem sich über 122.000 Tweets ergaben, am 21. Februar und in der Woche danach erreicht. Dieser Tag war geprägt von Beiträgen, die die von Putin angeführten Zusammenstöße zwischen Russland und unterschiedlichen Regierungen in den Vereinigten Staaten hervorhoben. Sie verwiesen auch auf die Bemühungen westlicher Politiker wie des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, eine diplomatische Lösung zu finden, und unterstrichen die Bereitschaft Joe Bidens – und damit der USA – zu kämpfen. Darüber hinaus gab es Beiträge, die sich besorgt über die mögliche Annäherung zwischen dem brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro und Putin – und somit zwischen dem Image der brasilianischen Regierung und autoritären Führungskräften – äußerten.

Die aus Influencern und Unterhaltungsprofilseiten bestehende Gruppe erzeugte in der Woche vom 21. Februar mit insgesamt mehr als 26.000 Beiträgen den größten Widerhall. Dieser Zeitraum war geprägt von Kommentaren über die Anwesenheit Jair Bolsonaros in Russland und sein Treffen mit dem russischen Staatschef Wladimir Putin. Die Tweets kritisierten, hinterfragten und verspotteten, dass der brasilianische Staatschef trotz seiner Abneigung gegen den Kommunismus ehemalige sowjetische Soldaten ehrte und trotz seiner Verachtung für die Empfehlungen der Gesundheitsbehörden zur Verwendung von Schutzmasken aufgrund der COVID-19-Pandemie in Brasilien Schutzmasken in Russland trug.

 

2) Öffentliche Debatte

Bei der Analyse der Interaktionen wurden über 1,1 Mio. Tweets identifiziert, die für diese Studie relevant sind. Das Korpus besteht aus Profilseiten, Interaktionen und Beiträgen, die zur öffentlichen Debatte in Brasilien zu den Ereignissen um den Krieg in der Ukraine beitrugen. Die Analyse bestimmt die Gruppen, ausgehend von Profilseiten, die dichter und näher voneinander in der Visualisierung verteilt waren, und stellt die verschiedenen Narrative in Frage, die von jeder der Gruppen übernommen wurden.

Visualisierung 1 - Interaktionen
Analysierter Zeitraum: vom 1. Januar bis zum 31. Mai 2022

Quelle: Twitter | Gestaltung: FGV ECMI

. Quelle: Twitter | Gestaltung: FGV ECMI

Regierungsnahe Gruppe – 32,6 % der Profilseiten | 52,2 % der Interaktionen
Diese Gruppe besteht aus Influencern und Regierungsanhängern. Die Annäherung des Präsidenten Jair Bolsonaro an den russischen Präsidenten wurde von dieser Gruppe als strategische Maßnahme zum Schutz der diplomatischen Verhältnisse und Handelsbeziehungen zwischen den beiden Ländern gelobt. In der Folge wurde die Garantie der Düngemittelversorgung oft erwähnt, was ein klares Signal an den Wirtschaftssektor der Agrarindustrie war. Der Start des Nationalen Düngemittelplans durch die Regierung wurde als Maßnahme zur Ausweitung der heimischen Produktion und zur Verringerung der Abhängigkeit von Importen gefeiert. Die Gefährdung der Düngemittelversorgung des Landes wurde weithin thematisiert, auch als Rechtfertigung für die Ausbeutung indigener Gebiete, welche nach Aussage des Präsidenten selbst ein großes Potenzial für die Herstellung von Düngemitteln hätten, die aber durch „zu große indigene Gebiete“ unrentabel würden. Die Reise des Präsidenten Bolsonaro nach Russland wurde daher trotz der Kritik der traditionellen Presse und einiger NATO-Länder als strategische Vorwegnahme zum Vorteil des Landes betrachtet. Häufig wurde die NATO als Bedrohung der nationalen Souveränität wahrgenommen, wobei patriotischer Protektionismus gegenüber dem Amazonas ein zentrales Argument war, das an global orientierte und verschwörungstheoretische Vorstellungen appellierte. Äußerungen von Ministern des Obersten Bundesgerichts (STF) zu dem Konflikt gaben ebenfalls Anlass zu Anfeindungen, insbesondere gegenüber den Ministern, die für den Wahlprozess zuständig waren und häufig Ziel von Angriffen der in diesem Abschnitt analysierten regierungsnahen Gruppe waren.

Gegner der brasilianischen und der russischen Regierung – 46,6 % der Profilseiten | 41,4 % der Interaktionen
Die Gruppe umfasst Profilseiten von Journalisten, Kommunikations- und Unterhaltungskanälen, Politikern der Rechten und der Linken, wobei die Rechte überwiegt. Sie zeichnet sich durch eine Vielzahl von Akteuren und unterschiedliche politische und ideologische Perspektiven aus. Dieser Gruppe zugerechnet wurde auch die Profilseite des ehemaligen Ministers und Richters Sergio Moro, @SF_Moro. Die aus diversen Akteuren bestehende Gruppe thematisiert im Allgemeinen die einheitliche Haltung der brasilianischen politischen Führungskräfte in Bezug auf den Krieg zwischen Russland und der Ukraine. Die Beiträge zeigten eine mögliche Synchronie und angebliche Einheit zwischen dem Präsidenten Jair Bolsonaro und dem ehemaligen Präsidenten Lula bezüglich ihrer Unterstützung Russlands. Diese angebliche Einheit und politische Haltung wurden mit diktatorischen Regimen verglichen und als schädlich für Brasilien gesehen, indem sie als Zeichen für die Abkehr von den westlichen Demokratien gelten könnten. Dazu thematisierten die Tweets den Widerstand Lulas gegenüber den US-amerikanischen Perspektiven, der als „Antiamerikanismus“ bezeichnet wurde, sowie Bolsonaros Bewunderung für und Freundschaft mit Putin, wobei auch das Treffen der beiden in Moskau im Februar erwähnt wurde. Darüber hinaus fand in dieser Gruppe eine Sprachnachricht Verbreitung, die dem Abgeordneten Arthur do Val (Podemos-SP) zugeschrieben wird, der auch unter dem Spitznamen „Mamãe Falei“ bekannt ist. In einem Bericht über aus der Ukraine geflüchtete Frauen und ukrainische Polizistinnen sagte er, dass „ukrainische Frauen einfach sind, weil sie arm sind“.

Influencer und Unterhaltungsprofilseiten – 15,4 % der Profilseiten | 4,3 % der Interaktionen
Diese Gruppe, die aus humoristischen Profilseiten, normalen Nutzern, Komödianten und Unterhaltungskanälen besteht, postete ironische Beiträge, die erstens die Möglichkeit zu widerlegen versuchten, dass Brasilien über die wirtschaftlichen und psychologischen Voraussetzungen für einen weiteren Krieg verfügt, und darauf hinwiesen, dass es im Land dringendere Kämpfe und Konflikte gibt. Die Beiträge forderten außerdem, dass der Präsident Jair Bolsonaro in der Auseinandersetzung zwischen Russland und der Ukraine sich nicht hervortun und sich stattdessen ruhig verhalten sollte, wie er es bei der Bekämpfung der COVID-19-Pandemie in Brasilien tat. Drittens wollte die Gruppe den Widerspruch Jair Bolsonaros hervorheben, der den Kommunismus in Brasilien kritisiert, aber nach Russland reist, um kommunistische Soldaten zu ehren und eine offensichtliche Annäherung an den russischen Präsidenten zu erreichen.

 

3) Hauptakteure

Ein genauerer Blick auf die Profilseiten mit der größten Anzahl an Interaktionen zeigt ein gewisses ideologisches Gleichgewicht, weist aber auf die zentrale Rolle von Präsident Jair Bolsonaro und die Leistungen seiner Verbündeten im digitalen Raum hin. Im Hinblick auf die Präsidentschaftswahlen im Jahr 2022 ist festzustellen, dass nur der Präsident Jair Bolsonaro, der ehemalige Minister Sergio Moro und der ehemalige Präsident Lula in Bezug auf die Online-Sichtbarkeit ihrer Meinungen zu dem Konflikt hervorstechen.

Diagramm 2 – Durchschnittliche Anzahl an Interaktionen
Analysierter Zeitraum: Vom 1. Januar bis zum 31. Mai 2022


. Quelle: Twitter | Gestaltung: FGV ECMI

Jair Bolsonaro, der in der Debatte für die meisten Interaktionen verantwortlich war, lobte seine Entscheidung, im Februar nach Russland zu reisen, um die Versorgung mit Düngemitteln sicherzustellen. Die Reise des brasilianischen Staatschefs wurde auch von seinen Anhängern gelobt, welche die Autonomie gegenüber äußeren Einflüssen, den wirtschaftlichen Schutz, der vor allem der brasilianischen Agrarindustrie gewährt wird, und die nationale Sicherheit hervorhoben. Auch in dieser Gruppe waren die Beiträge mit dem höchsten Engagement stark von Ironie geprägt. Sergio Moro kritisierte, dass Präsident Bolsonaro seinen Besuch als Zeichen der Unterstützung für die Russen betrachte, was aus diplomatischer Sicht ein Fehler gegenüber den westlichen Ländern gewesen sei. Darüber hinaus kritisierte der ehemalige Minister den ehemaligen Präsidenten Lula dafür, dass er angeblich „autoritäre Regime bevorzugt“ habe, und reagierte damit auf Lulas Interview mit der Zeitschrift Time. Der ehemalige Präsident betonte die Bedeutung der nationalen Produktion von Düngemitteln im Zusammenhang mit dem Krieg und postete während des Wahlkampfs Inhalte, die eine Stimulierung der Produktion und des Wirtschaftswachstums im Land während seiner möglichen Amtszeit versprachen.

3. Fazit

Der Ausbruch des folgenschwersten Krieges auf dem europäischen Kontinent seit dem Zweiten Weltkrieg hat an sich kein nennenswertes soziales Engagement in der brasilianischen öffentlichen Debatte ausgelöst. Nichtsdestotrotz und vor dem Hintergrund des Wahljahres spielen die politischen Führungskräfte eine zentrale Rolle für den Einfluss und die Auswirkungen, die die öffentliche Meinung über den Konflikt prägen. Dies kann als bestätigt angesehen werden durch die Art und Weise, wie Online-Informationsflüsse und ihre Kontrollmechanismen von einer Vielzahl von Nutzern als wertvolle Güter genutzt wurden. Wenn politische Akteure diese Instrumente jedoch im Dienste der Propaganda und der Konfrontation von Narrativen einsetzen, sind die sozialen Auswirkungen größer, insbesondere angesichts eines globalen Krisenszenarios. In dem Maße, in dem die Dynamik der digitalen Kommunikation an öffentlicher Relevanz und sozialem Verhalten zunimmt, eignen sich politische Akteure und Staaten die Möglichkeiten der Social-Media-Plattformen an und optimieren deren Nutzung, um bestimmte Ziele zu erreichen. Davon ausgehend ist die öffentliche Debatte in Brasilien über den Krieg in der Ukraine vor dem Hintergrund eines vorangegangenen Streits um Narrative zwischen politischen Akteuren zu analysieren. In diesem Fall ist es interessant zu beobachten, wie bestimmte Einzelpersonen und Gruppen sich die Nutzung sozialer Medien aneignen können, um bestehende Ansichten zu stärken und letztlich politische Gegner zum Schweigen zu bringen.

4. Literaturverzeichnis

BENNETT, W. Lance/LIVINGSTON, Steven (Hrsg.): The Disinformation Age: Politics, Technology, and Disruptive Communication in the United States. Cambridge University Press, 2020.

CHAYKA, Kyle: Watching the World’s ‘First TikTok War’. In: The New Yorker, März, Bd. 3, 2022. Verfügbar unter: https://www.newyorker.com/culture/infinite-scroll/watching-the-worlds-first-tiktok-war. Letzter Zugriff am: 8. August 2022.

CIURIAK, Dan: The Role of Social Media in Russia’s War on Ukraine. Verfügbar unter: https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=4078863. 2022.

MILLER, Michael L./VACCARI, Cristian: Digital Threats to Democracy: Comparative Lessons and Possible Remedies. In: The International Journal of Press/Politics, Bd. 25, Nr. 3, S. 333 – 356, 2020.

PYRHÖNEN, Niko/BAUVOIS, Gwenaëlle: Conspiracies beyond fake news. Produsing reinformation on presidential elections in the transnational hybrid media system. In: Sociological Inquiry, Bd. 90, Nr. 4, S. 705 – 731, 2020.

5. Herausgeber

Forschungskoordination
Marco Aurelio Ruediger
Amaro Grassi

 

Forscher*innen
Sabrina Almeida
Maria Sirleidy Cordeiro
Dalby Dienstbach Hubert
Lucas Roberto da Silva
Igor Reis

 

Fachliche Prüfung
Renata Tomaz

 

Grafikdesign
Daniel Almada
Luis Gomes

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